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Verhältnismäßigkeit als rechtsstaatliches Grundprinzip

Rechtsstaatliches Handeln ist an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Dieser Grundsatz begrenzt Eingriffe des Staates in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger.

Was bedeutet Verhältnismäßigkeit?

In unserer verfassungsrechtlichen Ordnung müssen alle staatlichen Maßnahmen verhältnismäßig sein. Dieser Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Funktion, die individuellen Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen (vgl. BVerfGE 81, 310 (338)). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird im Grundgesetz nicht ausdrücklich genannt. Seine Rechtsgrundlage hat er jedoch im Rechtsstaatsprinzip. Seine Einzelheiten sind durch langjährige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht worden.

Legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Maßnahme

Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müssen alle staatlichen Maßnahmen zunächst einem legitimen Zweck dienen. Sie müssen zudem geeignet sein, den verfolgten Zweck zu erreichen oder ihn zu fördern (Geeignetheit). Die Maßnahmen müssen zudem erforderlich sein, um den Zweck zu erreichen (Erforderlichkeit) und dürfen nicht außer Verhältnis zum Ziel und dem Zweck stehen (Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne):

1. Ist der verfolgte Zweck legitim?

Der mit der Maßnahme verfolgte Zweck muss legitim, also verfassungskonform sein. Welche Zwecke legitim sind, hängt dabei auch vom jeweiligen Grundrecht ab, in das eingegriffen wird. Der Gesetzgeber hat bei der Festlegung der Zwecke und Ziele seiner Gesetze einen großen Beurteilungs- und Entschließungsspielraum. So ist beispielsweise die wirksame Strafverfolgung ein legitimer Zweck staatlichen Handelns, der Grundrechtseingriffe rechtfertigen kann. So darf beispielsweise die Untersuchungshaft gegen eine beschuldigte Person angeordnet werden, wenn diese der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund – wie die Fluchtgefahr - besteht. In diesem Fall soll die Untersuchungshaft dem Zweck der Verfahrenssicherung dienen, da die beschuldigte Person an der Flucht gehindert wird.

2. Fördert die Maßnahme die Zielerreichung?

Das Gebot der Geeignetheit verlangt den Einsatz solcher Mittel, mit denen der gewünschte Zweck erreicht werden kann. Der Gesetzgeber kann also nicht, in Freiheitsrechte mit ungeeigneten oder untauglichen Mitteln eingreifen. Bei der Beurteilung der Geeignetheit steht dem Gesetzgeber aber ein weiter Vorhersagespielraum zu. Der Gesetzgeber darf beispielsweise bestimmte Konzepte erproben. Auch ob das verwendete Mittel das bestmögliche oder am besten geeignete Mittel ist, ist eine Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers und verfassungsrechtlich nicht vorgegeben.

3. Gibt es ein milderes Mittel zur Zielerreichung?

Eine staatliche Maßnahme verletzt das Gebot der Erforderlichkeit, wenn ihr Ziel auch durch ein anderes, gleich wirksames Mittel erreicht werden kann, das Grundrechte nicht oder deutlich weniger fühlbar einschränkt. Man spricht hier auch vom Grundsatz der Wahl des mildesten Mittels. So muss beispielsweise ein Haftbefehl wegen Fluchtgefahr aufgehoben werden, wenn sein Zweck im Einzelfall auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann, z. B. durch eine Meldeauflage oder eine Kaution.

4. Wie sind die verschiedenen Interessen gegeneinander abzuwägen?

Das Gebot der Angemessenheit (auch: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) verlangt, dass eine staatliche Maßnahme nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck steht. Das bedeutet, dass die von einer staatlichen Maßnahme Betroffenen nicht übermäßig oder unzumutbar belastet werden dürfen. Das Grundgesetz verlangt also eine Abwägung zwischen den verschiedenen Rechtsgütern, die von einer Maßnahme betroffen sind, beispielsweise von einem Gesetz mit den Gründen, welche die staatliche Maßnahme tragen. Solche Rechtsgüter sind in erster Linie die Grundrechte, also zum Beispiel das Recht auf körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit oder die persönliche Ehre. Bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der Gründe, die den Eingriff rechtfertigen, muss die Grenze des Zumutbaren gewahrt bleiben. Das Bundesverfassungsgericht verlangt hierbei in ständiger Rechtsprechung, dass ein angemessener Ausgleich zwischen dem Eingriffsgewicht der Regelung und dem verfolgten gesetzgeberischen Ziel, also zwischen Einzel- und Allgemeininteresse herzustellen ist (vgl. nur BVerfGE 133, 277 Rdnr. 84 ). Um beim Beispiel eines Haftbefehls zu bleiben: Die Gerichte müssen stets eine Abwägung vornehmen zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit und dabei prüfen, ob es anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalls angemessen ist, dass Untersuchungshaft angeordnet und aufrechterhalten wird.

Wann und wo gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?

  • Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt für die gesamte Staatsgewalt in Bund und Ländern. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet ihn auch als „übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns“ (BVerfGE 23, 127 (133)). Er gilt also immer dann, wenn sich Staat und Bürgerinnen und Bürger gegenübertreten. Seine zentrale Bedeutung hat er im Bereich der Grundrechte, denn er begrenzt die Einschränkung von Grundrechten. Dabei muss zum einen jede gesetzliche Regelung selbst verhältnismäßig sein, auf deren Grundlage der Staat in Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingreift. Zum anderen muss auch bei der Anwendung der gesetzlichen Regelung im Einzelfall die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Das bedeutet beispielsweise, dass eine Behörde, der durch eine gesetzliche Vorschrift ein Ermessensspielraum eingeräumt wird, bei der Ausübung dieses Ermessens stets verhältnismäßig handeln muss (z. B. bei Beschränkungen einer Versammlung unter freiem Himmel wegen einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit). Ansonsten würde die Behörde ihr Ermessen überschreiten und rechtswidrig handeln.
  • Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist neben seiner Bedeutung im Recht der Bundesrepublik Deutschland zudem ein allgemeiner Grundsatz des Rechts der Europäischen Union und hat über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Eingang in alle europäischen Rechtsordnungen gefunden.

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